PraxisTheorieForschung

Politische Bildung in der Jugendarbeit

  • Umfang: 159 Seiten
  • Autor*in: Giesecke, Hermann
  • Buch (Monographie)
  • Juventa, München, 1972, 3. Auflage

Abstract

Eine historisch interessante Publikation, insbesondere betreffend der aus heutiger Sicht lebensweltorientierten Öffnung sozialpädagogischer Ansätze im Bereich (politischer) Bildung der 60er und 70er Jahre, wobei sich Konturen von Arbeitsgrundlagen heutiger Jugendarbeit abzeichnen.

Im Sinne einer dichten Beschreibung analysiert Hermann Giesecke politisch-bildende Tagungen mit Jugendlichen, durchgeführt in den Jahren 1960 bis 1963. In dem vorliegenden Buch von 1972 weist der Autor zwar darauf hin, dass seit Durchführung der Tagungen schon vieles selbstverständlich wurde, jedoch wichtige didaktische Prinzipien keineswegs überholt, sondern durch Forschung bestätigt sind in ihrer Notwendigkeit. Benannt werden hierbei unter anderem eine „herrschaftsfreie Kommunikation“ oder das Ernstnehmen sozialisationsbedingter schichtenspezifischer Sprach-, Denk-, Motivations- und Kommunikationsbarrieren. Eine freizeitbezogene Tagung mit Jugendlichen gilt Giesecke als „erzieherische Gesellungsform“, in der auf experimentellem Wege in einem „Freiheits-Spielraum“ fehlerfreundliches, soziales Lernen und durch die Gesellung „selbst erziehende Wirkungen“ zustande kommen (S.118). Durch (pädagogische) Bewusstmachung entstehen in diesem Rahmen neue Selbst- und Welterfahrungen.
Im ersten Kapitel, „Das pädagogische Feld der Tagung“, werden zunächst die allgemeinen äußeren Bedingungen beschrieben, um vor diesem Hintergrund sich den Akteur*innen zuzuwenden: studentischen Teams, Oberschüler*innen, Lehrlingen und kompletten Schulklassen mit ihren Lehrer*innen. Dabei klingt schon in der Überschrift des zweiten Kapitels ein erweitertes Politikverständnis an: „‘Politik‘ als Stoff, als Unterrichts- und als Erziehungsprinzip“ (S.59), ebenso ein praxeologisches Verständnis von Bildung und Beteiligung: „Zur politischen Bildung im weitesten Sinne gehört alles das, was es uns möglich macht, uns mit Erfolg politisch zu beteiligen.“ (S.59) Der Mensch soll soweit wie möglich Subjekt seiner Verhältnisse und so wenig wie nötig Objekt sein.

Wie können Beziehungen zwischen pädagogischer Leitung und Jugendlichen und unter den Jugendlichen demokratisch gestaltet werden? Hermann Gieseckes These lautet, daß eine demokratische Beziehung nur dort möglich ist, wo ein Rollenwechsel stattfinden kann. Angedeutet wird weitergehend die Bedeutung des Informellen in einem freien, offenen Rahmen für Bildungsprozesse: „Mit einer gewissen Vereinfachung darf man sogar sagen, daß jene Augenblicke, wo die persönliche Bedeutsamkeit des Gelernten auf einmal auf- und einleuchtete, seltener im Unterricht zu finden waren und häufiger in den Zeiten der Improvisation - der freien Gesprächsgruppen oder der privaten Gespräche.“ (S.82)

Der dritte Teil verallgemeinert „Aspekte einer Didaktik der Jugendtagung“ aus dem Erfahrungsmaterial. Ausgeführt werden „politisch-pädagogische Grunderfahrungen", unter anderem die Erfahrung rationaler Leistungsfähigkeit, die Erfahrung von Subjektivität oder die Erfahrung verminderter Repressivität. Eine bedeutende Rolle spielen hierbei Offenheit und Experimentierwille: „Die experimentelle Gesellungsform der Tagung ermöglichte den Teilnehmern eine Reihe politischer Grunderfahrungen, die primär nichts mit dem Lehrstoff zu tun hatten, sondern vor allem durch das Arrangement der Sozialsituationen erfolgen konnten.“ (S.119) Das Soziale ist quasi im Bildungsprozess dieser Tagungsform doppelt eingelagert, Giesecke folgert daraus: erstens sind politische Erkenntnis wie politische Beteiligung nur in solidarischer Weise möglich. Zweitens verlangen die geschilderten Experimentierprozesse „sowohl hinsichtlich ihrer Deutung wie hinsichtlich ihrer produktiven pädagogischen Behandlung“ nach dem reflexiven Aushandlungspotentials eines (demokratischen) Teamverbunds von Fachkräften - der Einzelne wäre überfordert.

Ein Ausblick bezüglich Nachhaltigkeit von (politischer) Bildung und weitergehender Infrastruktur bzw. Angebotspalette wird im Schlusskapitel gegeben: „Es wäre ein entscheidender Irrtum anzunehmen, unsere Tagungskonzeption allein vermöchte die politische Vorstellungskraft der Jugendlichen hinreichend anzureichern, solange es nicht auch in der örtlichen Jugendarbeit überall Stationen gibt, in denen ab und zu Besinnungspausen eingeschaltet werden können.“ (S.143)

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